Die Not mit den Noten

02. Apr 2024

Sind Noten hoffnungslos veraltet oder doch immer noch die sinnvollste Form der Beurteilung? Die Debatte über eine Schule ohne Noten hat in jüngster Zeit Fahrt aufgenommen.

Wie und ob Ziffernnoten durch zeitgemässere Beurteilungsformen abgelöst werden könnten, ist umstritten und stellt im System Schule mehr als nur Zeugnisse und Prüfungen in Frage.

Text: Michael Zollinger

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Die Argumente gegen Noten sind eigentlich seit Jahren dieselben: Noten sind kaum objektiv, sie variieren von Lehrperson zu Lehrperson und von Lerngruppe zu Lerngruppe, und sie können die reale Verbesserung von Schülerinnen und Schülern kaum abbilden. Zudem frustrieren sie viele Kinder wegen deren Vergleichscharakter. «Noten reduzieren eine komplexe Lernleistung auf eine simple Ziffer», kritisiert Rahel Tschopp, die früher als Heilpädagogin und Schulleiterin gearbeitet hat und nun als Beraterin von Schulen tätig ist. «Mit der Umsetzung des Lehrplans 21 und der Kompetenzorientierung wären eigentlich die Voraussetzungen geschaffen, dass Kinder nicht mehr zeitlich gleichgeschaltet lernen müssen. Weil am Schluss aber immer noch eine Note im Zeugnis stehen muss, wird diese Möglichkeit von den meisten Lehrpersonen viel zu wenig ausgeschöpft. Man hält am Bewährten fest und arbeitet plus/minus noch immer im Gleichtakt», bedauert Tschopp. 

Mit anderen Worten: Die Notengebung verhindert eine eigentlich gewollte und sinnvolle Entwicklung in der Schule. Die andere Krux sei die Erwartungshaltung des Umfelds, vor allem der Eltern. Noten als Währung und Teil der DNA der Schule gäben Erziehungsberechtigten eine Scheinsicherheit, wo ihr Kind stehe. Schafft man sie ab, löse man vor allem eine grosse Verunsicherung aus, argumentieren die Befürworterinnen und Befürworter der Noten.

Noten stressen viele Kinder

Längst weiss man: Für viele Schulkinder sind Noten Auslöser von Stress. 2021 befragte die Stiftung Pro Juventute 1056 Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 15 Jahren und bestätigte erneut, dass sich ein Drittel vor allem wegen Prüfungen und Noten in der Schule gestresst fühlt. Ähnliches ergab eine jüngst veröffentlichte Studie der Stiftung Mercator Schweiz, wonach die Hälfte der befragten Eltern bei ihren eigenen Kindern Belastungen und Stress im Zusammenhang mit Prüfungen und Bewertungen in der Schule wahrnimmt. Und selbst gute Noten haben laut Rahel Tschopp nicht zwingend einen positiven Einfluss: «Eigentlich zeigen sie vor allem, wie gut sich ein Kind an die Bedürfnisse der Lehrperson anpassen kann. Wenn ich regelmässig eine 5,5 oder eine 6 schreibe, fördert dies meine Auseinandersetzung mit dem Lernen nicht, sondern es führt dazu, dass ich immer mehr nach guten Noten strebe.» Für Tschopp sind Prüfungen ohnehin eine künstliche Situation, die man später im Berufsleben kaum noch antrifft. Statt allein, ohne Hilfsmittel und unter Zeitdruck eine Aufgabe zu lösen, hat man später Unterlagen, Kolleginnen und technische Hilfsmittel zur Verfügung. Nicht zuletzt aus diesem Grund benoten inzwischen medizinische und juristische Eliteunis in den USA die Leistungen von Studierenden nicht mehr, sondern beschränken sich auf ein einfaches System von «bestanden» und «nicht bestanden». Das haben auch immer mehr Lehrfirmen hierzulande erkannt, sie messen dem Zeugnis nicht mehr eine hohe Bedeutung zu, wenn es um die Auswahl ihrer Lernenden geht. ...